“Mutter, ich bin wahllos“

Nach drei Jahren Abstinenz holen „Bratze“ zum grossen Wurf aus und bespielen im Sommer die Festival-Republik. Vorher gibt es die Chance, das neue Album der Elektropunker in kleinen Clubs zu erleben.

2010, und die Wut ist zurück. Doch das explosive Cocktail aus Ohnmacht und Hass hat sich verändert. Das Aufbegehren ist subtiler geworden, denn der Soundtrack der Subkultur ist seit dem Debüt der Elektropunker Bratze 2007 immer mehr der Eins-Null-Binärcode und weniger der stampfende Rhythmus der vorangegangenen Protestbewegungen. Der Computer hat die Mitklatsch-Refrains abgelöst – und so funktioniert die Revolution im Exzess am eigenen Körper und nicht auf der Straße.

2010 proben Bratze die Verschmelzung von Computer-Beats und Punk-Gitarren: Im April stellte das Duo, bestehend aus Normann Kolodziej und Kevin Hamann, ihr neues Album „Korrektur nach unten (und die Notwendigkeit einer Übersetzung“) vor.

Knapp eine Schulstunde dozieren Kolodziej und Hamann auf ihrem neuen Album über die „Korrektur nach unten“. Fast 45 Minuten. Es ist eine Stunde Gesellschaftskunde: Über die eigene Befindlichkeit („Die auswendigen Muster“), die Sinnlosigkeit der Internet-Gesellschaft („Das einfache Fluten“) und die Wut und Ohnmacht gegenüber der Gesellschaft („Ich und die Geister“) und dem Staat („Trapez“).

„Dazu kann man gut klatschen“

Die Musik ist zwei Drittel Elektro, ein Drittel Punk und manchmal ein zuckriger Pop-Überguss. Es wird belehrt, aber das Album ist tanzbar. „‚Korrektur nach unten“ ist nicht zu sperrig, mit eingängigen Melodien. Es ist nicht zu verkopft, aber mit intelligenten Texten. Es ist wütend.

Bratze haben nichts zu verlieren: Sie pendeln zwischen der Rebellion des Punk und der Distanz des Elektro. Wenn sie in ihrer Wut angreifbar sind, hebt die Kühle der Beats sie über die Kritik. Ein Aufruf zur Aufruhr mit Augenzwinkern: „Ist doch nur ein Spiel, wir sind gekommen, um uns zu amüsieren.“

„Das ist keine Bewegung, wir passen da nicht rein“

Die Distanz ist das Erbe der Hamburger Schule, aus der Bratze stammen. Kolodziej tritt auch als „Der Tante Renate“ auf, Hamann ist solo als „Clickclickdecker“ unterwegs. Als Bratze mischen sie scheinbar wahllos die unterschiedlichen Stile und treten so in die Fußstapfen von Deichkind und Tocotronic. „Korrektur nach unten“ ist ein bisschen Kunst, etwas Rebellion, eine Ironie Pop. Es enthält die Gestik der Verweigerung, die Tocotronic zelebrieren und die tanzbare Verweigerung der Mittelschicht von Deichkind, obwohl sie ihr selbst entstammen.

Bratze sind (wie Deichkind und Tocotronic) die Klangkulisse der Großstadt 2010. Irgendwie ohne Orientierung und ohne Illusionen, gleichzeitig aber optimistisch und kompatibel für die Massen. Dass sich damit das Publikum identifizieren kann, haben auch die grossen Konzertveranstalter erkannt: Im Sommer spielen Bratze auf dem Melt, dem Hurricane und dem Southside. Doch vorher gibt es noch die Chance, die „Korrektur von unten“ in kleinen Clubs zu erleben.

Sven Hirschler, freier Journalist.

Tourdaten:

25.04. Cottbus – Muggefug
26.04. München
– Atomic Cafe
27.04. Gießen
– AK 44
28.04. Saarbrücken
– Garage
29.04. Freiburg
– White Rabbit
30.04. Wiesbaden
– Schlachthof
01.05. Würzburg
– Cairo Hoffest
28.05. Kassel – Frühlingsfest
29.05. Lingen
– Abifestival
04.06. Ellersdorf
– Wilwarin Festival
05.06. Lüneburg
– Lunatic Festival
18.06. Neuhausen o.E. – Southside Festival
19.06. Hof – In.die Festival
20.06. Scheeßel – Hurricane Festival
26.06. Köln – Papierfabrik Ehrenfeld (GetAddicted)
02.07. Bremen
– Berminale
03.07. Bingen
– Open Air
09.07. Jena
– Kulturbahnhof
10.07. Görlitz
– La Pampa
15.07. Gräfenhainichen –
Melt Festival
24.07. Diepholz
– Appletreegarden
30.07. Elend
– Rocken am Brocken
31.07. Dortmund
– Juicy Beats
07.08. Freising – Prima Leben & Stereo
13.08. Hamburg – Dockville
14.08. Stemwede
– U&D Festival
19.08. Marburg – Cafe Trauma
20.08. Hohenstein – Voice of Art Festival
21.08. Hannover – Bootboohook Festival

Ein Kommentar

Eingeordnet unter Bands, Musikreview

Eine Antwort zu ““Mutter, ich bin wahllos“

  1. Pingback: “Mutter, ich bin wahllos” « Nach dem Bankett

Hinterlasse einen Kommentar